
Die richtige Entscheidung

Als Kind stotterte ich stark und hatte deshalb ein Gespür dafür entwickelt, wie es anderen Menschen geht. In der Schule machte ich eine Mentorenausbildung und wurde Streitschlichter. Das sprach sich schnell herum und schon bald kamen auch Mitschüler zu mir, die ich gar nicht persönlich kannte, und sprachen mit mir über ihre Sorgen und Probleme. Auch in meiner Freizeit engagierte ich mich sozial. Meinen ersten Kontakt zur AWO hatte ich mit sechzehn Jahren. Ich nahm an einer Ferienfreizeit nach Holland teil. Dort segelte ich mit meinen Freunden zusammen und wir hatten eine schöne Zeit. Weil uns die Freizeit so viel Spaß gemacht hatte, nahmen wir als Gruppe an einer Jugendleiterschulung teil und begleiteten im Jahr darauf 25 Kinder zwischen acht und zehn Jahren als Betreuende an den Brahmsee.
Nach der Schulzeit absolvierte ich meinen Zivildienst bei einem Behindertenfahrdienst. Danach stand ich vor der Entscheidung, welche berufliche Laufbahn ich einschlagen sollte. Ich war hin-und hergerissen zwischen meiner Leidenschaft – der sozialen Arbeit und meinen schulischen Fähigkeiten im naturwissenschaftlichen Bereich. Die Aussichten in sozialen Bereich eine gute und sichere Stelle zu bekommen, waren damals nicht die Besten.
Mit dem Gedanken, dass ich mich ja auch weiterhin im sozialen Bereich ehrenamtlich engagieren kann, entschied ich mich zunächst für ein Physikstudium. In dieser Zeit ging es mir jedoch nicht gut, weil ich bemerkte, dass mich das Studium einfach nicht erfüllte. Es gab mir wenig zurück und ich war am Verzweifeln. Ich brach dann mein Studium ab und machte, um mich weiter zu orientieren, in welche Richtung ich beruflich gehen möchte, ein Praktikum in einer psychiatrischen Wohneinrichtung. Dort fuhren wir mit den Bewohnerinnen und Bewohnern in den Urlaub nach Bayern. Am letzten Tag organisierten wir für die Wohngruppe einen großen Abschiedsabend. Dazu veranstalteten wir in einem Teil des Speisesaals eine Disco. Die Stimmung war ausgelassen – alle lachten und tanzten zur Musik. Auf der anderen Seite des Speisesaals saß ein Mädchen im Rollstuhl, die sich zusammen mit ihrer Familie im Hotel aufhielt. Sie schaute die ganze Zeit zu uns herüber. Ich bemerkte ihren traurigen Blick, ging zu ihr hinüber und fragte sie, ob sie auch bei der Disco mitmachen wolle. Sie strahlte mich an und daraufhin schoben wir sie im Rollstuhl auf die andere Seite zur Disco. Das Mädchen wurde sofort in die Wohngruppe integriert und wir tanzten alle zusammen.
Nach diesem Abend brachte ich sie wieder zu ihren Eltern zurück und sie bedankte sich für den ganzen Spaß, den sie mit der Wohngruppe hatte. Es war das ehrlichste und wahrhaftigste Danke, was ich in meinem Leben je gehört hatte. Dieser Moment änderte mein ganzes Leben. Meine Zweifel waren wie weggeblasen und ich wusste jetzt, wie es für mich weitergehen wird.
Nach dem Praktikum studierte ich dann Sozial- und Organisationspädagogik in Hildesheim. Nebenbei engagierte ich mich ehrenamtlich beim AWO Bezirksjugendwerk und war dort im Vorstand tätig. Als ich meinen Abschluss in der Tasche hatte, fing ich an bei der AWO zu arbeiten. Mir gefallen vor allem die Werte, die herzliche Wärme und das füreinander da sein, egal in welcher Situation man sich befindet.
Mittlerweile bin ich Fachbereichsleiter für die psychosozialen Dienste der AWO und beschäftige mich vor allem mit Koordination, Personal- und Wirtschaftsplanung. Gemeinsam mit einem tollen Team von Einrichtungsleitungen und vielen engagierten Kolleginnen und Kollegen bin ich jeden Tag bestrebt Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen in einer selbstbestimmten und eigenständigen Lebensführung zu unterstützen, ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und sie auf ihrem Weg der Genesung zu begleiten. Ich bin froh und stolz, dass ich hier arbeite, denn oft vergisst man die Menschen, denen es psychisch nicht gut geht.
Ich empfinde es als wichtig, dieser Zielgruppe mit meiner Arbeit eine Stimme zu geben. Es sind oft schwierige und bunte, aber dennoch liebenswerte Menschen, für die es sich lohnt, sich einzusetzen. Bis jetzt hat es sicher immer richtig angefühlt. Im Gegensatz zu meinem damaligen Physikstudium habe ich nun meinen Bereich gefunden. Ich erlebe Momente, die dem damaligen Danke sehr nah kommen und die mir zeigen, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.