
Ein Anruf aus London

17:43 Uhr Hannover, Deutschland. Ich bin gerade von einem Kurztrip aus London zurück und packe meine Sachen aus. Das Handy klingelt – eine britische Nummer. Eine Frauenstimme spricht englisch mit starkem Akzent. Ich verstehe wenig und lege auf, in der Annahme, dass sie sich bestimmt verwählt hat. Zehn Minuten später habe ich acht verpasste Anrufe von vier verschiedenen englischen Nummern und eine Nachricht auf meinem Display: „Salaam, ich bin Faisals Schwester. Er hat mir gesagt, dass du gerade in London bist, bitte ruf mich zurück.“
Nach dem Abitur, vor zwei Jahren, habe ich Deutschunterricht für Flüchtlinge gegeben. Faisals kenne ich einige. Trotzdem habe ich sofort ein Gesicht vor Augen. Faisal ist ein junger Mann aus Afghanistan. Sein Bruder wurde ermordet, da die Eltern früher politisch aktiv waren. Daraufhin schickten sie die übrigen Kinder nach Europa. Auf der Flucht verloren sich die Geschwister aus den Augen und beantragten in unterschiedlichen Ländern Asyl. Bis sie einen Reisepass erhalten, können sie einander nicht sehen.
Ich wähle ihre Nummer, sie meldet sich nach wenigen Sekunden. Ein Wortschwall bricht über mich herein. Sie habe so viel Positives von mir gehört, ich sei eine gute Freundin von Faisal und eine gute Lehrerin. Sie lädt mich zum Essen ein, das sei schließlich sehr teuer in London. Wo sie mich abholen soll, will sie wissen. Als ich zu Wort komme, erkläre ich, dass ich schon wieder in Deutschland bin. Nach einer Minute wortreichen Bedauerns gibt sie den Hörer an ihren Mann weiter. Er versucht mich zu überzeugen, möglichst schnell nach London zurückzukehren, damit ich ihre Kinder noch sehe solange sie klein und süß seien. Außerdem kenne er viele tolle Plätze, die er mir zeigen wolle. Ich bedanke mich herzlich und bekomme ungefähr zehnmal so viel Dank zurück. Das Gespräch beende ich, mit dem Versprechen mich zu melden, falls ich wieder in London sein sollte. Für den Rest des Tages habe ich gute Laune. Abends komme ich ins Grübeln. Das letzte Mal habe ich mit Faisal vor über einem Jahr gesprochen. Woher wusste er, dass ich in London bin? Die einzig logische Erklärung sind meine Fotos vor dem Big Ben, die ich im Internet veröffentlicht habe. Faisal scheint mehr Interesse an meinem Leben zu haben, als ich dachte. Er war nur einige Monate in meinem Deutschkurs. Ich hatte zu meinen Schülern ein freundschaftliches Verhältnis. Nach dem Unterricht aßen wir oft gemeinsam, spielten Spiele oder hörten Musik. Manchmal war ich erstaunt, wie ähnlich mir die Meisten waren. Obwohl viele Schlimmes erlebt hatten und ihr Leben so viel ernster war als Meines, wollten sie kein Mitleid. Sie wollten nicht immer und immer wieder von ihrem Schicksal erzählen. Sie zeigten mir traditionelle Tänze, waren stolz über jedes persische, arabische oder eritreische Wort, dass sie mir beibringen konnten und kochten mir ihr Lieblingsessen. Ich versuchte ihnen deutsche Popsongs zu erklären, die sie nach ein paar Wochen nahezu fehlerfrei mitsingen konnten.
Nach einem Jahr gab ich meinen Job aus zeitlichen Gründen auf. Ich vermisse viele meiner Schüler. Mein Deutschkurs war ein Jahr lang meine einzige Beschäftigung. Ich hätte jedoch nicht gedacht, dass auch ich so wichtig für diese jungen Menschen bin. Aber dieser Anruf aus London und jede Begegnung mit ehemaligen Schülern auf der Straße, die mich mit Begeisterung begrüßen, belehrt mich eines Besseren. Gastfreundschaft gibt es in allen Kulturen. Sie öffnet Türen und ist der Beginn von Freundschaften.
Meine Schüler verstehen nicht alle, wie man Verben konjugiert, aber sie können jetzt den EM-Song 2016 mitsingen. Auch das ist Integration.