Ein unvergessliches Erlebnis

Ein unvergessliches Erlebnis

Am Montag den 6. November 1989 fuhr ich mit dem Bus zur Mitarbeiterinnen-Fortbildung der AWO Hannover nach Berlin. Wir ahnten damals nicht, welchen sensationellen Ereignissen wir entgegenfahren würden. Der Weg führte durch eine trübe, regennasse Herbstlandschaft auf fast autofreier DDR-Autobahn. In Berlin-Tempelhof angekommen, ging es nach einem kleinen Imbiss auch schon sofort mit der Seminararbeit der Abteilung offene Altenhilfe los. Unter anderem wurden wir ehrenamtlichen AWO Mitarbeiterinnen über die Anleitung von Spielen im Seniorenclub unterrichtet, um den Senioren ein abwechslungsreiches Unterhaltungsprogramm bieten zu können.

Am Dienstagvormittag machte die Gruppe unter Leitung von Herrn Wollwagen, einem Mitarbeiter der AWO Berlin, eine Stadtrundfahrt. Wir fuhren an den Grenzübergängen vorbei und konnten einen Blick auf das Reichstagsgebäude und das Brandenburger Tor werfen. Auf der Ostberliner Seite waren weite Flächen menschenleer. Gegen Mittag besuchten wir noch zwei Einrichtungen der AWO Berlin: das Ida-Wolff-Haus, eine Einrichtung für chronisch Kranke und die Tagesstätte der AWO-Wohnanlage für Senioren, das Anna-Nemitz-Haus. Donnerstagabend hatten wir vor, uns die Komödie „Hereinspaziert die Tür ist zu“ im Theater am Kurfürstendamm anzusehen. So weit kam es jedoch gar nicht. Der Kurfürstendamm war gesperrt – der Fahrer des Busses hatte keine Möglichkeit, hindurch zu kommen. Niemand von uns hatte eine Vorstellung, was passiert sein könnte.

Am nächsten Tag, dem 10. November 1989, stand noch der Besuch der Tagesstätte in Kreuzberg auf dem Programm, der dann auch den Abschluss des Seminars bildete. Wir waren alle sehr zufrieden mit der Fortbildung und hatten vieles gelernt, um ältere Menschen noch besser unterstützen zu können.

Bevor es wieder zurück nach Hannover ging, fuhren wir zum Bahnhof Zoo und wollten von dort aus nochmal in die Stadt gehen und etwas essen. Doch als wir ankamen, war alles von Menschen umgeben. Die Ostberliner sind durch die inzwischen geöffnete Mauer gekommen und konnten es wohl selbst noch gar nicht glauben, dass es Wirklichkeit war und schoben sich glücklich und staunend durch die Straßen. Alle lagen sich in den Armen, es war ein seit Jahrzehnten so unwahrscheinliches Erlebnis. Die Mauer war tatsächlich geöffnet und die Bürger der geteilten Stadt wurden mit riesigen „Herzlich Willkommen“-Schildern begrüßt.

Für mich war es einmalig, so hautnah dabei gewesen zu sein. Von einem Tag auf den anderen hatte sich alles verändert. Dieses besondere Ereignis der Freiheit, als sich nach 28 Jahren die Grenze zur DDR öffnete, war in Verbindung mit der AWO eine unvergessliche Erfahrung.

Aufzeichnungen von Lieselotte Voigt, sie war Mitglied im AWO Ortsverein Anderten.