Maria

Maria

Claudia Schrader

Ich bin im Jahr 1972 eingeschult worden. In dieser Zeit kamen viele sogenannte „Gastarbeiter“ nach Deutschland. Auch in meine Schulklasse kamen einige Kinder aus den „Gastarbeiterfamilien“, und ich habe Maria kennen gelernt, die aus Italien kam. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden und viel in der Schule miteinander gespielt. Leider war es nicht nur in der Werkssiedlung in Laatzen-Rethen, in der ich aufgewachsen bin, üblich, dass sich der Kontakt zu den „Gastarbeitern“ nur auf den beruflichen und schulischen Bereich begrenzte. Es war entsprechend des damaligen Zeitgeistes undenkbar, beispielsweise nach der Schule zusammen zu spielen. Deswegen habe ich mich mit Maria immer heimlich getroffen. Diese Ausgrenzung konnte ich schon damals nicht verstehen, hätte mich aber nicht getraut, Maria entgegen des ausdrücklichen Verbots meiner Eltern mit nach Hause zu bringen. Leider scheint sich die Neigung, Menschen mit Migrationshintergrund abzulehnen und auszugrenzen, gegenwärtig in unserer Gesellschaft wieder zu aktualisieren.

Ich arbeite nun seit 25 Jahren bei der AWO in der Versorgung psychisch erkrankter Menschen, die aufgrund ihres mitunter „schräg“ wirkenden Verhaltens ebenfalls oft auf Ablehnung stoßen und sich ausgegrenzt fühlen. Bei den Gesprächen kommt bei den Klienten auch immer wieder die Frage nach der sogenannten „Normalität“ auf. Kürzlich hat mich eine Klientin gefragt, ob sie sich als schwer depressiv diagnostizierte Patientin überhaupt verlieben dürfe oder ob man sie dann nicht erst recht als „unnormal“ ansehen würde. Ich habe ihre Überlegung als sehr berührend und zugleich sehr traurig empfunden.

Mit der Arbeit bei der AWO versuchen wir, Diskriminierungen entgegenzuwirken, Ausgrenzungen zu vermeiden und andere in ihrem „Anderssein“ zu lassen, wie sie sind. Heute, mehr als vierzig Jahre später seit meiner Grundschulzeit, denke ich oft an Maria und frage mich, was aus ihr wohl geworden sein mag. Und habe das Bild eines kleinen, sehr lebhaften Mädchens vor mir, dass aus einem anderen Land kam, eine andere Sprache gesprochen hat, aber genauso auf Teddybären stand wie ich…

In meiner Arbeit wünsche ich mir, zumindest ein bisschen dazu beitragen zu können, dass auch „schräge“ Menschen sich bewusst werden, dass sie sich von „geraden“ Menschen zumeist gar nicht so sehr unterscheiden…