Meine Geschichte mit Herz   

Meine Geschichte mit Herz   

Heide Bistolopoulos, AWO Mitarbeiterin

Meist können wir genau sagen, wann wir nicht gerecht behandelt werden. Doch – wissen wir eigentlich selbst, was Gerechtigkeit ist und wie wir sie im Alltag umsetzen können?

Als ich im Hort der AWO Kita Sylter Weg arbeitete, lernte ich von den Kindern dort eine wichtige Lektion über Gerechtigkeit. Sie halfen mir dabei, eine Definition von Gerechtigkeit für mich zu finden, mit der ich seitdem sehr gut leben kann. Ich denke nicht, dass sie diesen Ausgang beabsichtigt oder vorausgesehen hatten, doch umso wertvoller ist für mich, was dabei herausgekommen ist.

Es war ein normaler Horttag mit Mittagessen, Hausaufgaben, größeren und kleinere Streitereien zwischen den Kindern. Doch mittendrin waren sich auf einmal fast alle einig: Sie luden mich vor Gericht, ich wurde angeklagt, ungerecht gehandelt zu haben. Ein Viertklässler war der Richter, es gab Zeugen, die gegen mich aussagten und von Anwälten vertreten wurden. Ich durfte mich selbst verteidigen. Das Verfahren begann sofort, mein Vergehen wurde bekannt gegeben: Ich hatte für einige Kinder Bilder kopiert und für andere hatte ich das nicht getan.

Die Zeugen erzählten, dass sie keine Kopien erhalten hatten, obwohl sie sie doch unbedingt wollten. Die Anwälte unterstützen sie nach Kräften. So ging es einige Zeit hin und her. Ich versuchte zu erklären, dass diejenigen, die an diesem Tag leer ausgegangen waren, gestern oder an einem anderen Tag  auch Kopien erhalten hatten und diejenigen, die an diesem Tag dran waren, an anderen Tagen leer ausgegangen waren oder ausgehen würden.

Meine Erklärung stellte die Richter, Zeugen und auch die Anwälte aber nicht zufrieden. Dann wurde darüber abgestimmt, ob ich gehen könnte, doch ich wurde nicht entlastet. Da saß ich nun und wusste erst einmal nicht weiter, denn meiner Meinung nach hatte ich mich gerecht verhalten. Der Richter, der sich sogar einen Hammer gebastelt hatte, entließ uns erst einmal in eine Pause. In der Zeit kam mir ein Gedanke, den ich dann auch umsetzte.

Nach der Pause fragte ich den gesamten Gerichtssaal, wie ich denn hätte handeln und was ich hätte tun sollen, um allen gegenüber gerecht zu handeln. Und stellt Euch vor, darüber gab es unterschiedliche Meinungen: „Kopien immer für alle.“, „Überhaupt keine Kopien mehr.“, „Jeden Tag einige Kopien für alle.“ Manche hatten eine Idee, einige betonten noch einmal, dass es so, wie ich es gemacht hatte, auf jeden Fall falsch war, andere wurden still.

Dann hielt ich  ein Plädoyer. Ich sprach darüber, dass es nicht gerecht ist, wenn alle das Gleiche erhalten – bedenken wir nur einmal die Größe der Essensportionen in einer Kita, in der Kinder von 1,5 bis 10 Jahren betreut werden. Gerecht ist es nicht, jeden wie den anderen zu behandeln, den Hungrigen wie den Satten, den Frohen auf die gleiche Art wie den Traurigen, den Kleinen wie den Großen.

Ich schaute in offene Gesichter und las Verständnis in den Augen. Wir sprachen gemeinsam weiter und fanden weitere unterschiedlichste Beispiele dafür, wo „für alle das Gleiche“ nicht gleich „Gerechtigkeit“ ist. Ja, wir hatten uns weit von den Kopien entfernt und lernten gemeinsam, dass es wichtiger ist, auf sein Gegenüber zu achten, als alle mit dem gleichen Maß zu messen. Wir sahen auf unsere Unterschiedlichkeit, die weiterreicht, als man mit dem Auge schauen kann. Wir sahen auf den Bedarf des Einzelnen, die Wünsche und auch auf unterschiedliche Lebenssituationen.

Es ist mit Worten schwer auszudrücken, was in dieser Gerichtsverhandlung nun geschah. Es war ein Augenaufgehen für den Nächsten, ein Verstehenwollen des Anderen, ein Aufeinander zugehen im Anderssein, ein Zusammenhalten im Verschiedensein. Verständnis war zu spüren, ein Getragen sein in der Gemeinschaft. Die Kopien waren unwichtig geworden. Stattdessen rückte in den Blick, dass sich jeder wünscht von anderen so behandelt zu werden, wie es in seiner Situation für ihn gerecht ist.

Durch dieses Erlebnis bekam ich Mut, mit unterschiedlichen Menschen und in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich „gerecht“ umzugehen und ja – mit dieser Gerichtsverhandlung kann ich mein Verhalten erklären.

Vielleicht ist das für Euch schon immer klar gewesen oder Ihr seht einen anderen Schwerpunkt in Gerechtigkeit – auch das ist okay. Doch für mich war diese Anklage und das was daraus folgte, ein wichtiges Erlebnis, das ich nicht missen möchte. Ich fand für mich ganz persönlich heraus, dass es sich nicht gerecht anfühlt, wenn ich „nur“ genauso behandelt werde wie jeder andere, denn ich bin anders als jeder andere. Genauso wie jeder von uns.

Ich wünsche mir, dass das eine oder andere Hortkind von damals diese gemeinsame Erfahrung in sein alltägliches Leben mitgenommen hat, das Wissen darum, dass es wichtiger ist, auf den einzelnen Menschen und seine ganz persönliche Art zu sehen, als alle mit einer  für alle gleich gefüllten  Gerechtigkeitsgießkanne zu begießen.