
Mit dem Herzen dabei – ein Leben in der Sozialarbeit

Ich war wohl 11 Jahre alt, da erlebte ich, dass meine Mutter hin und wieder Besuch von Nachbarinnen und anderen Frauen bekam. Dabei hörte ich manche Gespräche mit an, konnte aber in dem Alter nichts damit anfangen. Später im Alter von 14 Jahren – der erste Weltkrieg war gerade ausgebrochen – sprach meine Mutter mit Frauen, deren Männer Soldaten waren. Sie alle waren sehr ängstlich und holten sich bei ihr Rat. Wir waren selbst eine große Familie und Mutter hatte immer viel zu tun. Aber irgendwie gingen die Ratsuchenden beruhigter wieder weg.
Die Hungerjahre im Krieg waren schlimm. Von der Wehrmacht wurden in den Jahren 1917 bis 1918 [Suppen]-Knochen für die arbeitende Bevölkerung angeboten. Die [Suppen]-Knochen wurden in einem Zelt auf dem Hof des Gewerkschaftshauses in der Nikolaistraße für ein geringes Entgelt verkauft. Die Frauen wurden durch die Gewerkschaften um Mithilfe gebeten. Es war eine Aufgabe, die meine Mutter gerne übernommen hatte.
Beherzte Frauen schlossen sich zusammen und gründeten in Hannover einen Arbeiterfürsorgeausschuss. Nach Kriegsschluss trat in Berlin Marie Juchacz an die Öffentlichkeit. Frauen von der SPD und der Gewerkschaft berieten, wie der schwer angeschlagenen Bevölkerung geholfen werden konnte. Mit großem Einsatz wurde dann im Oktober 1919 durch die Initiative von Marie Juchacz in Berlin die Arbeiterwohlfahrt gegründet. Später breitete sich die Arbeiterwohlfahrt im [ganzen Land] aus. Es folgte die Gründung des Bezirks Hannover und danach des Kreisverbandes Hannover mit seinen Ortsausschüssen.
Mutter war eine der Mitbegründerinnen in Hannover, und sie war sehr stolz darauf. Meine Zeit der aktiven Mitarbeit fing 1925 an. In dem Jahr hatte ich geheiratet – mein Mann hatte dabei viel Verständnis für meine Arbeit und Geduld. Er freute sich mit mir, wenn es aufwärts ging.
Meine erste Arbeit für die Arbeiterwohlfahrt begann in der Gruppe „Ferienwanderungen in Kleefeld“ – ein Angebot für Kinder, dass wir organisierten. Während der Sommerferien stand uns der Sportplatz des Arbeiter-Sportvereins für einige Stunden zur Verfügung, in denen wir mit den Kindern gespielt haben. Die Verpflegung – Milchkaffee in großen Milchkannen, Brötchen und kleines Gebäck, sogenannte Fünf-Pfennig-Stücke – transportierten wir im kleinen Handwagen. Das Geld für den Einkauf bekamen wir vom Vorstand der Arbeiterwohlfahrt und zum Teil auch von den Geschäftsleuten. Gegen Abend zogen alle singend, müde und glücklich wieder nach Hause. Oft schon wurden wir von den Müttern erwartet, die sich freuten, dass ihre Kinder einen schönen Nachmittag erlebt hatten. Denn in den Urlaub konnte damals niemand von ihnen fahren.
Bis 1933 war ich Abteilungsleiterin in unserem Bezirk in der List in Hannover. 1933 wurde die Arbeiterwohlfahrt von den Nazis verboten. Hin und wieder kamen wir noch zusammen – zu Gesprächen und zum gegenseitigen Mutmachen. So lange es ging, trug ich stolz mein ‚Drei Pfeile‘-Abzeichen der SPD. Ich hatte dadurch allerdings auch viele unangenehme Erlebnisse.
Nach dem zweiten Weltkrieg im Sommer 1945/1946 haben wir angefangen, die Arbeiterwohlfahrt wieder aufzubauen. Die ersten Zusammenkünfte fanden in den Nissenbaracken am Volgersweg in der Nähe des Hauptbahnhofs statt. Sie waren als Notunterkünfte für Flüchtlinge aufgestellt. Auch die Arbeiterwohlfahrt hatte dort eine Baracke zur Verfügung. Es war sehr primitiv, aber wir waren froh, überhaupt eine Bleibe gefunden zu haben. Später hatte die Arbeiterwohlfahrt dann ihr Büro am Friedrichswall im historischen Laveshaus. Dort waren der Hauptausschuss der Arbeiterwohlfahrt Deutschland mit Lotte Lemke, der Bezirks- und Kreisausschuss und auch ‚Die Falken“ untergebracht. Es herrschte zwar eine bedrückende Enge, aber wir alle waren froh, uns gegenseitig mit Rat und Tat zu helfen.
Emmy Lanzke wurde unsere erste Vorsitzende, Alfred Blecken etwas später zum Geschäftsführer gewählt. Beide hatten sich mit Begeisterung, gerade in den schweren Jahren, zur Verfügung gestellt und waren mit viel Fleiß und Idealismus dabei.
Ich wurde gleich nach der Wiedergründung in den ersten Vorstand gewählt. Meine Aufgabe war zunächst, Mitarbeiter für eine Nähstube zu finden, die wir damals noch in der Nissenhütte hatten. Für die Flüchtlinge war es eine große Hilfe, sich an der Nähmaschine das Notwendigste selbst nähen zu können. In Linden wurde uns dann für die Nähstube ein Zimmer in einer Privatwohnung zur Verfügung gestellt. Zweimal die Woche kamen wir dort mit mehreren Helferinnen zusammen. Zusätzlich haben wir an zwei Nachmittagen eine Beratungsstunde für Mütter und Väter kostenlos angeboten.
Der Bezirksausschuss, der Kreisausschuss Hannover-Stadt und der Landkreis hatten nach langen Bemühungen Glück und konnten für ihre Arbeit eine Baracke am Waterlooplatz nutzen. Auch für die Nähstube gab es dort Räume, in denen wir Platz zum Nähen und Schneidern und der Ausgabe von ausgebesserter Kleidung hatten. Das war für die notleidende Bevölkerung und die Flüchtlinge eine große Hilfe. Es kamen viele Bedürftige zu uns. Oft auch entlassene Soldaten, die nichts hatten, außer dem, was sie auf dem Leibe trugen.
Es war schon vieles besser geworfen. Aus Amerika und England erhielten wir in großen Ballen verpackte Bekleidung, aus der Schweiz Nähmaterial, Maschinen-Nadeln, verschiedene Garne, gute Wolle zum Stricken oder neue Stoffe. Es gab viel zu tun für die Helferinnen – die schweren Ballen auspacken, aussortieren, einordnen. Da ich die Leitung der Nähstube hatte, warb ich ständig um Frauen, die im Nähen gut bewandert waren. Wir waren eine gut eingearbeitete Gruppe, und die Arbeit machte uns Freude, und wir schafften viel. Hier in Hannover hatten wir verschiedene Firmen angesprochen, und sie spendeten uns leichte Stoffe, aus denen Mädchenkleider, Schürzen und Röcke genäht wurden. Getragene Mäntel und schwere Stoffe wurden für die Jungen verarbeitet, Unterwäsche, Kittel und Bettwäsche ausgebessert.
In den Sitzungen des Kreisvorstandes berieten wir über Schulungsmöglichkeiten für die Helferinnen. Unsere ersten Bildungsvorträge fanden in Lüdersen am Deister statt. Bei unseren ersten Schulungen waren etwa 20 bis 25 Helferinnen dabei. Es kamen Referenten zu uns, die Vorträge über soziale Themen hielten. So wurde uns im Laufe der Zeit viel Wissen vermittelt. Die Vorträge und Schulungsangebote wurden in Deutschland ausgeweitet. Durch diese Tagungen lernten wir Helferinnen aus anderen Kreisen und Bezirken kennen.
1946/1947 wurden die ersten der so wichtigen Kindergärten eingerichtet, sehr viel durch Eigenhilfe. Ältere Genossen haben gern mitgearbeitet, zum Beispiel in der Herbartstraße. Durch die Hanomag bekamen wir den Kindergarten am Lindener Berg. Er wurde von ihr aufgestellt und eingerichtet. Alles war noch sehr bescheiden, doch es war eine große Hilfe für Mütter und Kinder.
Etwas später wurde ich Mitglied des Kindergartenausschusses. Wir machten Besuche in Kindergärten, nahmen Wünsche entgegen oder berieten. Die Anzahl der Kindergärten erhöhte sich. Für die Leiterinnen, Mitarbeiterinnen und Vorstandsmitglieder wurden Arbeitstagungen angeboten mit interessanten Vorträgen zu aktuellen Themen, anregenden Gesprächen und Austausch untereinander. Alle waren mit großem Interesse dabei.
Als Berlin durch die Blockade von der Außenwelt abgeschnitten wurde, setzen die Amerikaner die Luftbrücke ein und versorgten die Einwohner auf diesem Wege. Auch wurden die meisten Kinder durch die Amerikaner per Luftbrücke in die Bundesrepublik gebracht. So kamen sehr viele Aufgaben auf uns zu. Unsere Helferinnen hatten alle Hände voll zu tun. Wir fuhren zum Flughafen oder auch zum Bahnhof, je nachdem, wie der Transport weitergeleitet werden sollte. Oft mussten wir mitten in der Nacht auf dem Bahnhof sein, um die Kinder in Empfang zu nehmen. Im Bahnhof in einem Raum, der uns zur Verfügung stand, wurden sie verpflegt. Wenn noch Zeit war, konnten sie für ein Stündchen schlafen und wurden dann weitergeleitet. Wir brachten die Kinder zum Bahnsteig, und der Zug fuhr dann zum nächsten Ziel. Je nachdem, wie groß die Gruppe war, fuhr eine entsprechende Zahl von Helfern mit. Das musste vorher alles sehr genau organisiert sein. Von Hannover aus wurden die Kinder meistens in kleine Ortschaften gebracht. Sie kamen zu Pflegeeltern, wo sie liebevoll aufgenommen wurden.
Bei den von der Stadt eingerichteten Stadtranderholungen für ältere Bürger, die immer 14 Tage dauerten, habe ich von 1964 an mitgearbeitet. Dort konnten sie sich bei guter Verpflegung und in Ruhe erholen. Sie wurden mit Bussen abgeholt, in die Einrichtungen am Rande der Stadt gebracht und abends wieder nach Hause gefahren. Treffpunkte waren in den Stadtteilen. Ich hatte selbst mehre Jahre jährlich zweimal die Betreuung. Es war eine schöne Aufgabe.
Für mich war es gut, dass ich über Jahrzehnte in vielen Schulungen, Tagungen und Kursen Wichtiges und Neues aus dem Sozial- und Jugendbereich gelernt habe. So konnte ich immer wieder durch Ratschläge und Hinweise helfen.
Gerade ältere Menschen haben oft Behördenangst. Sie sind verunsichert und unbeholfen im Durchsetzen ihrer eigenen Angelegenheiten. Ich habe mich immer bemüht und meine wichtigste Aufgabe darin gesehen, hier zu helfen und den Schwächsten an die Hand zu nehmen. Wenn ich zurückblicke, war dies der Mittelpunkt meines langen Lebens in der Sozialarbeit.