Schwimmen lernen mit dem Sams

Schwimmen lernen mit dem Sams

Mareike Ellerhoff

M. rubbelt ihre kurzen Haare mit einem Handtuch trocken und lacht in sich hinein, als sie ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe sieht. Der Selbstfärbeversuch am Morgen im Bad zu Hause war mal wieder missglückt: Das geplante Braun gleicht nun eher einem Rot. Für einen rettenden Friseurbesuch hätte M. heute aber keine Zeit mehr gehabt – M. war ohnehin schon spät dran zum wöchentlichen Schwimmunterricht. Nun ist sie diejenige, die am Beckenrand wartet. Die nassen Hände sorgfältig abgetrocknet, drückt sie erneut den Home-Button ihres Smartphones. Das Display leuchtet auf und zeigt 19 Uhr 08, aber keine neue Nachricht, kein verpasster Anruf. M. runzelt die Stirn. „Sie ist doch sonst immer so pünktlich“, wundert sie sich. Im Telefonbuch scrollt sie bis K. und wählt die Nummer.

Es ist ein Freitagabend im Januar. Draußen liegt Schnee. Die dampfende Luft des Hallenbads lässt M.’s Gesicht kribbeln; der Neoprenanzug klebt an ihrer Haut. Hier ist ihr angenehm warm. Schon den gesamten Nachmittag gibt sie interessierten Gehandikapten Schwimmunterricht. Neben ihrem Studium der Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie in Hildesheim ist dieses ehrenamtliche Engagement in einem Schwimmbad eines Vororts von Hannover nicht nur ein netter Ausgleich zum Uni-Alltag, sondern eine Herzensangelegenheit. Schwimmen erinnert M. an Familienurlaube aus Kindertagen und macht ihren Körper leicht und ihr Herz froh. Gerne teilt sie ihre Freizeit, damit sich auch andere daran erfreuen lernen. Nach dem vorherigen Schüler mit Tetraspastik wartet sie nun auf die blinde K. Die Schwimmhilfen liegen schon bereit.

„Ich glaube, ich stehe an der falschen Ampel“, stöhnt die 16-Jährige ins Handy, als sie abnimmt. „Dabei sind wir den Weg von der Bahnstation doch extra vorher abgegangen! Ich ärgere mich so!“ „Kein Problem! Bleib, wo du bist“, beruhigt sie M.: „Ich hole dich ab!“. Im Neoprenanzug und mit nassen, roten Haaren rennt sie aus der Schwimmhalle und durch den Schnee zur nächsten Kreuzung. Dort wartet K. schon auf sie. Mit ihrem Taststock in der einen Hand umklammert sie den Ampelpfahl mit der anderen. „Du müsstest mich sehen, wie Paul Maar’s Sams“, begrüßt M. sie lachend. Kaum ausgesprochen, beißt sie sich auf die Lippe. „Äh, ich meinte…“, beginnt sie verlegen. „Vom Sams hat mir mein Papa früher auch immer vor dem Schlafengehen vorgelesen“, unterbricht K. sie unbeirrt und lacht zurück. „Einen seiner Wunschpunkte könnte ich auch gut gebrauchen…“, schmunzelt sie leiser.

Was sich ihre blinde Schwimmschülerin wohl wünschen würde, fragt sich M., während sie gemeinsam durch den Schnee zurück zum Badeingang stapfen. In der Halle findet K. dann ohne jegliche Hilfe den Weg zum Schwimmerbecken. Dabei orientiere sie sich immer am Geruch der Pommes frites vom Kiosk, erklärt sie.

M. erinnert sich noch genau an die erste Unterrichtsstunde und K.’s Angst vor Wasser. Schon als sehender Mensch schwimmen zu lernen, ist wohl aufregend und herausfordernd genug – ganz ohne Hilfsmittel unter, neben oder über sich. Worauf verlässt sich dann erst eine sehbehinderte Person? Was gibt ihr Halt? Mittlerweile vertraut K. ihrer Schwimmlehrerin M. blind – im wahrsten Sinne. Das macht sie unsagbar stolz.

Auch ich vertraue M., anders, blind als Freundin und bewundere sie für ihre unverblümte Zugewandtheit und ihre Selbstverständlichkeit auf Menschen zuzugehen. Wenn ich einen von Sams blauen Wunschpunkten übrig hätte, würde ich mir mehr M.’s für ein mögliches „Wir“ ohne Unterschiede wünschen.