
Wie baut man Vorurteile ab? Indem man sie besucht!

Meine Geschichte beginnt bei der Arbeiterwohlfahrt Kreisverband Hannover Stadt. Dort war ich im Beratungszentrum für Migranten als Honorarkraft für interkulturelle Frauenarbeit tätig. Meine Leiterin frage mich damals, warum ich nicht studieren würde. Studieren? „Du kannst alles was eine Sozialpädagogin kann. Warum studierst du das Fach nicht? Die praktische Arbeit fällt dir sowieso schon leicht, mach mehr draus!“. „Mal gucken“, erwiderte ich damals. Nun gut, ich war immerhin gelernte Erzieherin und habe Jahre lang mit Kindern gearbeitet, aber deshalb gleich zu studieren? Ich dachte lange über ihre Worte nach. Sie brannten sich mir ins Gedächtnis ein. Schließlich wagte ich den Schritt und schrieb mich ein. Während meines Studiums musste ich ein Praktikum absolvieren. Dass ich dieses bei der AWO machen würde, stand außer Frage. Allerdings zog es mich diesmal in die Interkulturelle AWO Begegnungsstätte für Senioren in der Nordstadt.
Meiner Leiterin Fatma Taspunar sagte ich, dass ich ein Projekt mit den Senioren machen wolle. Fatma war sofort dabei: „Was für ein Zufall, denn daran habe ich auch noch vor ein paar Tagen gedacht!“ Wir setzten uns also zusammen und überlegten. Zielgruppe der Einrichtung sind hauptsächlich Senioren mit Migrationshintergrund verschiedener Nationalitäten. Sie stammen überwiegend aus ehemaligen Anwerbungsländern. Zur Zielgruppe gehören auch Spätaussiedler und Kontingentflüchtlinge. Aber auch Deutsche treffen sich regelmäßig in den Gruppen. Verschiedene Kulturen treffen auf verschiedene Lebensweisen, die gegenseitige Toleranz erfordern. Die Idee lag auf der Zunge: „Wir lernen uns kennen“ sollte das Projekt heißen. Es ging um einen Dialog der Kulturen, der sehr lehrreich sein kann, wenn man ihn entsprechend zu nutzen weiß. Man lernt, dass es an jeder Kultur etwas Austauschbares und Interessantes gibt. Also erkundeten wir gemeinsam religiöse Einrichtungen. Wir besuchten Kirchen, Moscheen, Synagogen, Tempel und sprachen anschließend über unsere Erfahrungen. So, hofften wir, Toleranz aufzubauen und Vorurteile abzubauen. Denn Vorurteile entstehen meistens dann, wenn etwas unbekannt ist.
Das klingt zunächst banal. So einen Austausch brauche man heute nicht mehr, könnte man meinen. Aber genau deshalb war mir dieses Projekt so wichtig, weil dieser Austausch für diese Menschen nie wirklich stattgefunden hat. Viele der Seniorinnen und Senioren wurden in den ehemaligen Anwerbestaaten geboren, kamen als sogenannte Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter oder als deren Kinder in die Bundesrepublik. Sie bringen viele Geschichten und Erfahrungen mit. Ihr Leben in Deutschland war nicht rosig, sondern geprägt von Arbeit, Sorgen und Isolation. Sie führten fast immer schwere, schmutzige und monotone Arbeit aus. Ihre Familien mussten sie oft zurücklassen. Die Kinder wurden daheim von den Großeltern erzogen. Ihre körperliche sowie seelische Gesundheit litt unter diesen Bedingungen. Lange bleiben wollten sie daher nicht. Einige sind dann doch geblieben und schlugen Wurzeln: Sie bekamen Kindern, ihre Kinder gingen hier zur Schule oder sie konnten ihre Kinder aus der Heimat herholen.
Sie waren nicht nur getrennt von ihrer Familie, sondern auch von ihren Gewohnheiten. Eine fremde Kultur mit fremden Gewohnheiten als auch unterschiedlichen Werten und Normen. Vom vertrauten Umfeld ins unbekannte Wasser zu springen, war für sie ein prägendes Erlebnis, wie mir die Frauen in meiner Gruppe erzählen. Noch heute pendeln sie zwischen ihrer Heimat und hier.
Warum mich das so beschäftigt? Ich verstehe diese Frauen. Ihre Geschichte ist wie meine Geschichte. Ich komme ursprünglich aus dem Iran und musste meine Heimat aus politischen Gründen verlassen. Ich kam also unfreiwillig nach Deutschland und ließ Familie und Freunde hinter mir. Und wie ein kleines Kind musste ich vieles von Null an lernen. Als erwachsene Person ist das nicht einfach.
Geprägt von ihrer Vergangenheit hatten die Senioren nicht die besten Voraussetzungen für eine Integration. Weder die deutsche, noch andere Kulturen berührten ihren Alltag. Die Voraussetzungen für Vorurteile und Intoleranz lagen auf der Hand. Das musste ich ändern. Das Projekt „Wir lernen uns kennen“ sollte nochmal ihre Chance sein.
„Sie sind genauso Menschen wie wir!“ erzählte mir eine Teilnehmerin. „Sie essen das gleiche wie wir!“ Solche Reaktionen füllten mein Herz. Die Senioren hatten sich sehr viel zu erzählen. Die Botschaft kam an: Die Unterschiede sind doch nicht so groß. Unendliche Freude umklammerte mein Herz. Auch im hohen Alter ist man offen für Sachen, die einem zunächst verwehrt blieben.
Soziale Arbeit war schon immer in mir drin. Die AWO gab mir die Möglichkeit, den Menschen etwas zu geben.
Heute arbeite ich immer noch ehrenamtlich in der interkulturellen Seniorenarbeit. Die Arbeit bei der AWO macht mir genauso viel Spaß wie am ersten Tag.